Die sonderbarsten Geschichten, schreibt immer noch das Leben.
Dieses ist, wie ich meine, eine davon.
Es war im Jahr 1992, die Arbeiterwohlfahrt (AWO) hatte das bis dahin von ihr betriebene Kinderheim „Immenhof“ in Hützel, an einen „Geschäftsmann“ aus Hamburg verkauft. In diesen Jahren wurden von gewieften Leuten große Gewinne mit der Unterbringung von Flüchtlingen aus dem zerfallenden Jugoslawien und anderen Unruheherden im Osten gemacht. So sollte nun auch der Immenhof zu einem großen „Flüchtlingsasyl“ werden. Die Hützeler nahmen mit sehr gemischten Gefühlen an dieser Ausbeutung und Abwärtsentwicklung des Immenhofes Anteil.
Trotzdem mangelte es nicht an Bereitschaft, den Flüchtlingen bei Bedarf zu helfen.
Eines Tages rief mich meine Schwester an und sagte, dass eine vielköpfige deutsche Familie aus Tadschikistan in Hützel angekommen sei. Wir gingen hin, um zu fragen, ob wir irgendetwas für sie tun könnten. So lernten wir Maria kennen, die „Großmutter“ des tags zuvor angereisten Familienverbundes. Sie hatte ihre beiden Töchter, deren Männer und einige Enkelkinder in ihrer Obhut.
Maria freute sich über unser Hilfsangebot. Sie lud uns ein, mit ihnen allen eine Tasse Tee zu trinken. Wir zögerten nicht lange, setzten uns dazu und tranken mit ihnen das nach russischer Sitte stark gesüßte Getränk ihrer Heimat, während wir versuchten, uns ein Wenig miteinander bekannt zu machen.
Marias Alter war schwer einzuschätzen. Die vielen Ersatzzähne aus dunklem Metall in ihrem Gebiss, wirkten befremdlich, wenn sie sprach. Tatsächlich war sie erst 66 Jahre, schien aber weit älter als die meisten Frauen ihres Jahrganges, die im Westen gelebt hatten. Ihre beiden Töchter waren jünger, als wir. Man konnte sich aber auch bei ihnen täuschen, denn die wesentlich schwereren Lebensbedingungen, die sie alle gehabt hatten, waren ihnen deutlich anzusehen.
Wir lauschten fasziniert der Lebensgeschichte von Maria. Sie war als Wolgadeutsche geboren, und aufgewachsen. Das war eine Region in Russland, wo man Deutsch sprach, deutsches Brauchtum pflegte und lebte, als sei die Zeit stehen geblieben. Die Bauern dort hatten es im Auf und Ab der Geschichte nicht immer leicht gehabt, aber sie hatten ihre Heimat lieb gewonnen und es zu bescheidenem Wohlstand gebracht.
Marias Deutsch klang seltsam altertümlich. Sie sprach uns in der dritten Person an. Ganz so, wie es zu der Zeit in Deutschland üblich war, als ihre Vorfahren vor mehr als 200 Jahren auf Anwerbung der Regierung Katharinas der Großen, als Kolonisten in das ferne Zarenreich gezogen waren. Im Jahre 1924 war dieses Fleckchen Erde(so groß wie Belgien) mit verbrieften Sonderrechten der Regierung unter Lenin, sogar zur „Wolgarepublik“ ausgerufen worden. Man erhoffte sich seitens der kommunistischen Partei, mit Hilfe der Wolgadeutschen die Ideen des Kommunismus besser nach Deutschland transportieren zu können.
Als der 2. Weltkrieg ausbrach und deutsche Truppen nach Russland einfielen, hatten die deutschen Minderheiten in ihrer russischen Heimat einen sehr schweren Stand. Sie wurden, nicht assimiliert, wie sie waren, als Fremdkörper wahrgenommen. Man misstraute ihnen und feindete sie an. Im Laufe des Krieges wurde die Stellung der deutschstämmigen Russen vollends unhaltbar. Ohne Grund wurden Tausende von ihnen aus ihren Dörfern verschleppt und in die Verbannung geschickt. Als deutsche Soldaten auf dem Rückzug durch die Regionen dieser Minderheiten kamen, zogen viele Bewohner aus Angst vor weiteren Übergriffen der Russen, mit der geschlagenen Wehrmacht zurück nach Westen. So auch die siebzehnjährige Maria.
Die meiste Zeit ging sie zu Fuß, manchmal nahm ein Fahrzeug sie mit.
Das Unglaubliche gelang. Maria schaffte es, bis nach Deutschland zu fliehen. Kurz bevor das „Dritte Reich“, bedingungslos kapitulieren musste, kam sie dort an. Sie wurde als Flüchtling auf einem Bauernhof einquartiert, wo sie im Haushalt arbeitete.
Maria war glücklich, im „gelobten Land“, der Heimat ihrer Vorfahren, angekommen zu sein. Doch das Gefühl war trügerisch…..!
Während Maria sich in Sicherheit wähnte, handelte die Allianz der Siegermächte in zähen Sitzungen die Grenzen der Besatzungszonen sowie die Bedingungen des Umgangs mit der Bevölkerung aus. Zu ihrem namenlosen Entsetzen, lieferten die Engländer das siebzehnjährige Mädel, das sich schon gerettet glaubte, wie viele, viele ihrer Schicksalsgenossen an die Russen aus.
Sie wurden nach Sibirien verschleppt, wo es ihnen mehr als übel erging. Sie mussten unter unmenschlichen Bedingungen schwerste Waldarbeit leisten. Es gab kein schützendes Dach über dem Kopf, kein Haus, keinen Ofen, - einfach nichts! Bis zu den Hüften im Schnee stehend, mussten Frauen wie Männer schwerste Waldarbeit leisten. Es wurden mit primitivstem Werkzeug Bäume gefällt und zuerst einmal einfache Blockhütten als Unterkünfte gebaut. Medizinische Versorgung gab es nicht. Wer das Unglück hatte, krank zu werden, der starb eben.
Bis Mitte der fünfziger Jahre lebten die deutschen Zwangsarbeiter recht und schlecht in Sibirien. Dann lockerten sich die politischen Verhältnisse etwas.
Die Familie, Maria hatte inzwischen geheiratet und Kinder bekommen, konnte wählen, ob sie nach Kasachstan oder Tadschikistan wandern wollte. Sie zogen nach Tadschikistan. Dort siedelte die sowjetische Regierung, wie in anderen asiatischen Provinzen auch, Bauern an, die Baumwolle anbauen mussten. Die Zwangs-Siedler schufen sich aus dem Nichts ein bescheidenes bisschen Wohlstand und Sicherheit. Maria beschrieb uns ihr Wohnhaus, dass sie aus alten Eisenbahnschwellen gebaut hatten, mit einem Garten und einer Viehweide drum herum.
Nun aber war im Zeichen von „Glasnost“ die durch Druck von Moskau zusammengehaltene „Sowjetunion“ instabil geworden. Marias Familie fühlte sich in Tadschikistan nicht mehr sicher. Es war zu erwarten, dass die einheimische Bevölkerung die ungeliebten russischen Besatzer eines nicht allzu fernen Tages vertreiben würde. Niemand wusste, wie es den deutschen Zwangs-Siedlern dabei ergehen würde. In dieser Zwickmühle nahm Maria all ihren Mut zusammen und versuchte noch einmal in das ferne Deutschland, die Heimat ihrer Vorfahren, zu gelangen. Sie stellte einen Ausreiseantrag und zu ihrer großen Erleichterung durfte die Familie das Land verlassen.
So gelangte sie mit dem Flugzeug nach Frankfurt und von dort in einer langen Nachtfahrt zu uns, nach Hützel, auf den Immenhof.
Einer ihrer Schwiegersöhne war auf der Reise krank geworden. Am Morgen nach der Ankunft wurde unser Dorfarzt zu ihm gerufen. Maria unterhielt sich mit dem Doktor und fragte ihn, wo in Deutschland sie denn nun eigentlich sei. Er erklärte ihr, dass sie in die „Lüneburger Heide“ gebracht worden wäre.Sie sah ihn verblüfft an und sagte: „Hier war ich schon einmal!“ Erstaunt ließ er sich die Geschichte ihrer ersten Flucht erzählen und fragte sie, wo sie denn damals gewesen sei. Sie konnte sich erinnern, dass der Hof, auf dem sie als Siebzehnjährige gewohnt und gearbeitet hatte, in einem Dorf namens „Heber“ lag. Der Arzt war sehr betroffen. Trotz seiner knapp bemessenen Zeit, lud er sie spontan ein, mit ihm zu fahren. Er brachte sie in den wenige Kilometer vom Immenhof entfernten Ort Heber. Maria erkannte auf Anhieb den Hof wieder und als sie dort nachfragte, konnte die Seniorin der Bauernfamilie sich noch lebhaft an die junge „Flüchtlingsdeern“ mit den blonden Zöpfen erinnern.
Welch eine wundersame Fügung!
Fast 50 Jahre nach ihrer traurigen Auslieferung führte das Leben Maria an genau die gleiche Stelle von damals zurück!
Meine Schwester und ich waren zutiefst angerührt von dieser unglaublichen Geschichte. Wir wollten schon damals einen Pressebericht publizieren und so viel Unterstützung wie möglich ankurbeln, damit Maria sich wenigstens nun im Alter in der Deutschen Heimat willkommen fühlen und schnell einleben sollte. Auf unseren Vorschlag, ihr Schicksal öffentlich zu machen reagierte sie jedoch äußerst verschreckt und angstvoll. Sie wollte darüber offiziell nichts sagen. Es hatten sie nicht alle Kinder nach Deutschland begleitet. Zwei Söhne waren noch in Russland geblieben, weil sie sich nicht vorstellen konnten, in Deutschland heimisch zu werden. Maria war felsenfest davon überzeugt, die verbliebenen Familienmitglieder hätten mit schlimmen Repressalien zu rechnen wenn sie ihre Geschichte verlauten ließe. Sie war um nichts in der Welt umzustimmen und daher begruben wir unseren Plan.
Irgendwann zog der Clan weiter nach Westen, in der Hoffnung dort Arbeit für alle zu finden. Von Maria haben wir nichts wieder gehört. So blieb uns nur zu hoffen, dass sie zum guten Ende doch noch ein einigermaßen sorgloses Leben in unserem Land gefunden hat.